… nehmen, je näher man herankommt, individuelle Züge an, formen sich zu Gesichtslandschaften, die dem, der nur die Mühe sich macht, darin zu lesen, komplette Schicksale offenbaren. Wie oft habe ich das gedacht, gedacht und gespürt, während meiner Arbeit an diesem Projekt: Wie nehme ich Menschen wahr, aus der Ferne erst, beim flüchtigen Hinsehen, und was geschieht mit mir und meiner Sicht, wenn (im Gespräch meist) die Konturen sich schärfen, die Eisberge mehr von ihrem Rumpf zeigen. Es war im entferntesten nicht zu ahnen, wie sich im Verlauf herausstellte, was mich bei der photographischen Arbeit in den sächsischen Gefängnissen erwarten würde, obwohl ich anderweitig schon mit Strafvollzug in Berührung gekommen war. (Mein Sohn hatte kurz davor ein halbes Jahr in Sachen „Beschaffungskriminalität“ abgesessen.) Eines immerhin schwante mir von Anfang an: Es sollte eine aufwühlende Zeit werden. So ein Gehäuse, dachte ich belustigt beim ersten Besuch der legendären „Bremen“ in Waldheim, sieht von weitem aus wie ein alter ramponierter, nicht geöffneter Weihnachtskalender. Die Fensterchen geschlossen, natürlich, aber was steckt dahinter?! Nicht, daß ich naiv zu Werke gegangen wäre, aber solch bildhafte Gedanken machten es leichter, mich heranzutasten an diese verriegelte Welt nebenan, um das Gesehene überhaupt in Bilder zu bannen. Vor allem waren es die Gespräche mit den dort Lebenden, die mich „sehen“ ließen.
Mich interessierte deren Wahrheit(en), ihre Sicht auf die Dinge und, wenn ich es geschafft hatte, so weit, sprich: nah an sie heranzukommen, ihr Verständnis vom „Sinn des Lebens“. Gedanken über Tat und Strafe oder Dauer des unfreiwilligen Aufenthaltes der „Strafer“ traten dabei zunehmend in den Hintergrund. Je stumpfer die sprichwörtliche Schere im Kopf wurde, desto mehr gelang es mir, die (vor mir) Sitzenden zu respektieren, und um so leichter wurde es ihnen, sich mir zu öffnen.
Mehr als einmal gaben meine Gesprächspartner erschütternde Verborgenheiten preis, die selbst der zuständige Therapeut vielleicht nie erfährt. Für dieses Vertrauen, das mir das Photographieren erst ermöglichte, möchte ich allen Befragten von Herzen danken; ohne ihr Mittun wären die folgenden 100 Seiten leer. Mit den Bildern als auch den Schicksalen dahinter habe ich fast zwei Jahre – von 2000 bis 2002 – gelebt und mich daran gerieben. An langen Abenden diskutierte ich über die Fragen, die mich während der vielen Gespräche (die sich oft und doch nie ähnelten) ansprangen: Wie das ist mit Prägung und Prädestination. Mit dem Sinn von Strafe. Mit Milde oder Härte im Vollzug. Mit der Schuld, die nicht gesühnt, der Tat, die nicht bestraft wird. Umgetrieben hat mich die Herausforderung, als Photographin in eine Tabuwelt zu blicken, ihr ein Gesicht zu geben und sie so aus ihrem Schattendasein hervortreten zu lassen. Menschen, die (wenn auch durch eigenes Verschulden) ausgesperrt sind aus der grenzenlosen Freiheit, weggeschlossen vom konventionellen Alltag, den sie nicht aushalten wollten oder konnten. Ich habe seelisches Elend gesehen, wie es mir so vorher nicht im Bewußtsein war, und ich habe dabei bzw. im Nachhinein begreifen müssen, daß auch das ein Spiegel dieser Gesellschaft ist, nicht eben liebevoll geputzt und schief hängend obendrein. Dennoch erfüllt er auf ambivalente Weise seine Funktion. Daß unser Projekt zustande kam, verdanken wir nicht unwesentlich einer spürbaren Neuorientierung der Gesellschaft hinsichtlich Sinn und Zweck von Strafe. Verschiedentlich neue Ansätze (Gesprächs-, Arbeits-, Kreativtherapien) lassen erkennen, daß man die Ursachen für viele Straftaten im Wertevakuum unserer gepriesenen Demokratie sieht. Knast ins kollektive Bewußtsein zu rücken, ist Ziel diverser Initiativen; gleichwohl durften wir, als wir Herrn Gerichtspräsidenten Burkert in Leipzig mit unserem Vorhaben zu Leibe rückten, von diesen Bemühungen profitieren.
Auch in Waldheim und Zeithain standen uns (im Gegensatz zu den Inhaftierten) Tür und Tor offen, Direktion und Mitarbeiter hilfreich zur Seite.
Allen, die uns unterstützten, sei hier herzlich gedankt: namentlich den Herren Herden, Baldauf und Göckenjan in Waldheim, Wollek und Schiebel in Zeithain, Frau Unger und Herrn Schmidt in Stollberg-Hoheneck. Dank für ideellen wie materiellen Beistand gebührt zudem Frau Schürrle von der Kulturstiftung Sachsen, dem „Kunst im Gefängnis e.V.“ – insonderheit Frau Seidel, Schatzmeisterin, Herrn Schmid, Vereinsvorsitzender, und Herrn Hinz, ehem. Leiter des Jugendstrafvollzugs Zeithain –, der Kulturdezernentin Petra Rottschalk und Stefan Breternitz in Rudolstadt, Gerda Viecenz vom art capella e.V. in Schkeuditz sowie Jürgen B. Wolff, der als Graphiker das Katalogprojekt mit Tat und Rat konstruktiv-geduldig begleitete. Und selbstredend danke ich Frau Dr. Ina Gille, die sich vor zweieinhalb Jahren ohne Zögern auf meine Idee einließ und die Unternehmung von Beginn an mittrug.
Silvia Hauptmann
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